Worte, die wirken

 

Leseprobe Stimmen im Kopf

Ich vermisste Mama. Immer wieder überlegte ich, ob ich sie suchen sollte. Und immer wieder dachte ich: Sie will dich nicht sehen, du hast sie angespuckt.
War der Gedanke von mir oder von der Schwarzen Dame in meinem Kopf? Ich wusste es nicht und blieb im Bett liegen. Lächerlich machen wollte ich mich nicht. Und eine Suche nach ihr wäre ziemlich lächerlich, das musste mir keine Schwarze Dame erzählen, das wusste ich selbst. Ich sollte den Gedanken einfach nicht denken, dann würde es mir besser gehen. Also fort damit! Mutter war seit drei Jahren verschwunden und ich musste mich endlich damit abfinden. Das sagte ich mir.
Und ging zu Bett. Starrte die Zimmerdecke an, weil ich nicht einschlafen konnte. Sie war grau und schäbig, wie immer.
Schließlich schlief ich doch ein. Und träumte von ihr. Wir saßen vor einer Matheaufgabe, die noch nie jemand gelöst hatte, und überlegten hin und her. Schrieben Formeln auf, strichen sie wieder durch.
„Wir werden es nie schaffen, wir machen uns lächerlich!“, sagte Mama und warf den Bleistift wütend in die Ecke, direkt vor die Füße der Schwarzen Dame.
Plötzlich hatte ich eine Idee. Schrieb die Formel aufs Papier. Wusste nicht weiter. Mama sprang auf, griff sich wieder den Stift, die Schwarze wurde durchsichtig und verschwand. Und wir schrieben und schrieben gemeinsam, feuerten uns an und am Schluss hatten wir die Lösung.
„Wir kriegen den Nobelpreis.“ Mama lachte, legte den Stift auf das vollgekritzelte Papier und lehnte sich zurück.
Dann wachte ich auf, sprang auf und warf die Bettdecke in die Ecke, wo seltsamerweise keine Schwarze stand und auf mich wartete. Ich schlüpfte in Hose und Hemd und in die Schuhe.
Vater kam rein und fragte: „Schon auf? Was ist los?“
„Ich muss weg.“
„Trink wenigstens vorher einen Kaffee“, bot er mir an – ausgerechnet er, der mir sonst immer Kaffee verbot.
„Später“, sagte ich.
Und dann fiel es mir ein.
Mama war immer abends in die Bar gefahren.
Sollte ich zurückgehen und auf den Abend warten?
Dann legst du dich wieder ins Bett und wirst sie nie suchen, sagte ich mir und das war richtig, völlig richtig. Ich würde mich wieder ins Bett legen, die Decke anstarren und nicht aufstehen. Nicht aufstehen können. Die Schwarze würde es zu verhindern wissen.
Doch was sollte ich so lange tun? Schule? Nein, ich war ja auch noch gesperrt. Stadtbibliothek? Die öffnete erst um zehn. Also wanderte ich durch die Stadt, entdeckte Gassen, die mich bisher nie interessiert hatten. Die Häuser sahen frisch geputzt aus, die Bäume lachten mich an und selbst die Autos glänzten fröhlich und frisch gewaschen. Ich wunderte mich, dass die Schwarze mich nicht plagte, zurück nach Hause und ins Bett zu gehen.
Kurz vor zehn stand ich vor der Stadtbibliothek. Selbst die strahlte mich an und ich fand mehr Bücher, als ich jemals würde lesen können.
Mama war immer um vier zur Arbeit gefahren. Folglich verließ ich um vier die Bücherei mit einem Stapel Fantasy und Science-Fiction im Rucksack und marschierte zum Bahnhof. Und fuhr nach Karlsruhe und zum Chez Nicole.
Der Türsteher wollte mich verscheuchen und sagte: „Jugendliche haben keinen Zutritt.“
Erst ging ich, dann kam ich zurück; er wurde böse und ich fragte ihn nach Mutter. Er kam aus dem Türeingang auf den Bürgersteig; ich dachte, er würde mich schlagen, und wollte weglaufen, doch er erwischte meinen Arm.
„Bist du ihr Sohn?“, fragte er.
Ich nickte, während sich mein Hemd voll Schweiß saugte, denn er war doppelt so schwer wie ich. Die Vergangenheit solle man ruhen lassen, erklärte er. Wenn er wüsste, wo meine Mutter sei, würde er mir’s sagen; leider wisse er es nicht und ich müsse es wie ein Mann tragen.
Ich schluckte meine Tränen runter. „Deine Mutter ist eine tolle Frau“, sagte er, „das solltest du nie vergessen.“
Dann drückte er mir zwanzig Mark in die Hand – Euro gab’s damals noch nicht – und erklärte, hier sei sie nicht mehr aufgetaucht und ich solle nie, nie wieder hier aufkreuzen.
„Trag es wie ein Mann, finde dich damit ab“, wiederholte er und das hatten alle Erwachsenen zuvor gesagt. Sprüche aus dem Sprücheladen für Erwachsene.

Aus: Stimmen im Kopf - Depressionsroman, Hans Peter Roentgen
         ISBN 9783819210020, 240 Seiten, BoD 5/2025
https://www.hanspeterroentgen.de/Buecher/Stimmen-im-Kopf-Depressionsroman/